Analyse

6 von 10 E-Autos kommen aus China

Von wegen Tesla! Die wahre Gefahr für die etablierten Autohersteller sind die chinesischen Anbieter. Mit ihren massentauglichen E-Autos sind sie schon jetzt die Nummer eins am Weltmarkt – und haben in Europa gerade erst Fuß gefasst.
Grafik zum globalen Absatz und Marktanteil von E-Autos
Globaler Absatz und Marktanteil von E-Autos

Clayton Christensen war ein weiser Mann. Sein Buch „The Innovator’s Dilemma“ aus dem Jahr 1997 ist so etwas wie eine Pflichtlektüre für CEOs weltweit. Christensen erklärt darin, wie disruptive Entwicklungen, also ein bahnbrechender Wandel ganzer Industrien, vonstattengehen und wie Konzerne dabei überleben können. In den Jahren vor seinem Tod 2020 hat sich der Harvard-Professor auch zur Auto­industrie geäußert. 

Aber der Reihe nach. Disruptive Innovationen sind Innovationen, die das Potenzial haben, bestehende Technologien zu ersetzen und damit etablierten Unternehmen arg zusetzen können. Das Dilemma dabei ist, dass der Erfolg dieser neuen Technologien nicht sofort absehbar ist. Im Gegenteil: Anfangs sind sie den etablierten Produkten meist sogar unterlegen. Beispiele gefällig? Die Digitalfotografie konnte der analogen in Sachen Qualität lange Zeit nicht das Wasser reichen, dasselbe gilt für Flash-Speicher gegenüber klassischen Festplatten. Sie wurden aber schließlich immer besser und damit wettbewerbsfähig.
Das Dilemma, vor dem die etablierten Konzerne stehen, ist folgendes: Sollen Sie Ressourcen von der aktuellen Technologie abzuziehen, um in die neue Technologie zu investieren oder sich besser voll auf das angestammte Kerngeschäft fokussieren? Beides kann zu Marktanteils-Verlusten führen – je nachdem, welche Technologie sich letzten Endes durchsetzt. 

Das Dilemma der Platzhirsche

Genauso ist es den Autoherstellern ergangen, nachdem Tesla seinen ersten Stromer auf den Markt gebracht hatte. Soll man auf den E-Zug aufspringen und den eigenen Produkten Konkurrenz machen oder sich doch lieber auf seine Kernkompetenzen konzen­trieren? Noch dazu, wo man bei den Elektroautos kaum Expertise hatte. Und die ersten Stromer in Sachen Reichweite begrenzt praxistauglich waren. 

Bemerkenswerterweise hat Clayton Christensen Tesla nicht als disruptives Unternehmen betrachtet. Er meinte, wenn ein Elektroauto 100.000 Dollar kostet, dann ist das Luxus und keine Disruption. „Die echte Disruption passiert in China“, hat Christensen bereits 2016 in einem Interview gesagt. Die dortigen Elektroautos seien so günstig, dass viele sich diese leisten können. 

Die aktuellen Absatzzahlen geben dem amerikanischen Ökonomen recht. 2021 wurden laut Daten der Internationalen Energieagentur (IEA) weltweit 6,6 Millionen Elektroautos verkauft. Daraus ergibt sich für diese Technologie ein Marktanteil von knapp neun Prozent am globalen Automarkt. Beeindruckend ist das Wachstum des E-Segments: Die 6,6 Millionen neu zugelassenen E-Autos bedeuten gegenüber dem Jahr zuvor eine Verdoppelung und gegenüber den 2,2 Millionen verkauften Stück aus dem Jahr 2019 sogar eine Verdreifachung des Absatzes. Dies ist umso bemerkenswerter, als sich der Gesamtmarkt wegen der Halbleiterengpässe zuletzt bescheiden entwickelt hat. China ist bei den E-Autos jedenfalls der mit Abstand größte Absatzmarkt: Knapp 3,4 Millionen Elektroautos wurden im Vorjahr im Reich der Mitte zugelassen. Damit lagen allein die chinesischen Verkäufe im Jahr 2021 schon über dem weltweiten Absatz des Jahres 2020! 

Chinas Marktanteile

Die Experten des Beratungsunternehmens Jato Dynamics haben sich die Entwicklung des Automobilmarktes im vergangenen Jahr genauer angesehen und bereits im Herbst eine Analyse publiziert, aus der hervorgeht, dass China nicht nur beim Kauf von E-Autos Weltmeister ist, sondern auch bei deren Produktion. Die Dominanz chinesischer Marken bei den batterieelektrischen Fahrzeugen (BEV) sei, wie es heißt, auffällig: 45 Prozent der weltweiten E-Pkw-Verkäufe entfielen im untersuchten Zeitraum (Jänner bis September 2021) auf chinesische Automarken. Beinahe jeder zweite E-Pkw ist also ein chinesisches Fabrikat. Zum Vergleich: Der Marktanteil chinesischer Hersteller am gesamten globalen Pkw-Markt liegt laut Jato Dynamics bei „nur“ rund 15 Prozent. 

Bemerkenswert ist die Marktführerschaft der Chinesen vor dem Hintergrund, dass diese in großen Märkten wie Europa gerade erst Fuß gefasst und noch kaum nennenswerte Umsätze eingefahren haben. Ein großer Teil des Erfolgs ist bis dato also auf die Binnennachfrage zurückzuführen: Etwa 95 Prozent der Fahrzeuge blieben im Land, die weltweite Verbreitung von China-Stromern ist also noch gering. Trotzdem sind die hohen Verkaufszahlen laut Jato Dynamics ein klarer Hinweis darauf, dass Marken aus der Volksrepublik bei der weiteren Umstellung auf Elektro­mobilität eine zentrale Rolle spielen werden. 

Neuer Hotspot der Autoindustrie

Die Dominanz Chinas geht allerdings selbst darüber noch hinaus: 6 von 10 der bis September 2021 weltweit verkauften BEV wurden in China montiert. Während zu dem Zeitpunkt 45 Prozent des weltweiten Absatzes auf das Land entfielen, wurden dort 60 Prozent der Stromer produziert. Das heißt: Ausländische Autohersteller bauen E-Autos ebenfalls häufig in China. Zu ihnen gehören neben aufstrebenden Marken wie Tesla und Polestar auch etablierte Hersteller wie BMW. Bei Tesla entfiel fast die Hälfte der weltweiten Verkäufe zwischen Jänner und September 2021 auf Elektroautos, die aus der „Gigafactory“ des Konzerns in Shanghai rollten. Die E-Mobilität ist für die chinesischen Autohersteller eine Chance, auf dem internationalen Markt Fuß zu fassen. Anders als in der Welt der Verbrenner haben die Hersteller aus Europa und USA bei Elektrofahrzeugen keinen Vorsprung. Die chinesischen Marken profitieren zudem von umfassender staatlicher Förderung und dem großen Inlandsmarkt. 

Die neue Stärke Chinas zeigt sich der Jato-Auswertung zufolge auch bei der Rangliste der Hersteller: Tesla führt weiterhin mit 23 Prozent Marktanteil auf dem weltweiten BEV-Markt. Dahinter folgt bereits das Joint Venture der chinesischen Unternehmen SAIC und Wuling mit dem US-Riesen General Motors. Das meistverkaufte Elektro-Modell auf dem chinesischen Festland war 2021 laut einer Studie des Analyseunternehmens Canalys übrigens der Wuling Hongguang Mini EV. 

Canalys beziffert den weltweiten Marktanteil von Tesla in dieser aktuelleren Studie übrigens mit zuletzt „nur“ noch 14 Prozent. Dahinter rangieren VW mit zwölf Prozent und SAIC mit elf Prozent. Mit BYD folgt gleich ein weiterer chinesischer Elektroautobauer auf Platz vier. Auf Platz fünf landet Stellantis. 
Unterdessen verliert Tesla selbst in den USA bereits Marktanteile. Laut Daten von IHS Markit lag der Anteil von Tesla an den E-Autoverkäufen in den USA im Jahr 2020 bei satten 79 Prozent, Canalys geht für 2021 von einem Marktanteil von unter 60 Prozent aus. Auch wenn das immer noch bedeutet, dass Amerikaner in der Regel kein E-Auto kaufen, sondern einen Tesla, so ist die Tendenz doch deutlich rückläufig. Das Beratungsunternehmen Jato warnte bereits in einer früheren Analyse, dass vor allem Europa den Wettlauf um das massentaugliche E-Auto tatsächlich verlieren könnte. Dabei spielt – Professor Christensen lässt grüßen – der Preis der Produkte eine entscheidende Rolle. 

Der Preis als Knackpunkt

Seit 2011 hat sich der durchschnittliche Preis für ein E-Auto in Europa laut Jato um fast 10.000 Euro auf mittlerweile 42.600 Euro erhöht – eine Steigerung um 28 Prozent. In den USA sei der Preis in den vergangenen zehn Jahren sogar um 38 Prozent auf 36.200 Euro gestiegen. Ganz anders China: Dort haben sich die Anschaffungskosten nahezu halbiert, von 41.800 Euro im Jahr 2011 auf zuletzt durchschnittlich 22.100 Euro. Es gibt aber auch schon E-Autos ab 3.700 Euro zu kaufen. In Europa beginnt die Preisliste dagegen erst bei 15.740 Euro, in den USA ist gar unter 24.800 Euro nichts zu machen. 

Während die Stromer hierzulande also immer teurer werden, gibt es sie in China bereits zu Niedrigpreisen. Der Grund: Der Westen hat in immer bessere, aber eben auch teurere Hightech-Stromer investiert, die Chinesen dagegen haben sich im abgelaufenen Jahrzehnt politisch gelenkt auf günstige E-Mobile für die breite Masse konzentriert. Die Konsequenz: Während die USA und Europa den Kauf von E-Autos weiterhin stark subventionieren müssen, kann die Regierung in Peking ihre Förderprogramme bereits zurückfahren, da die chinesischen Käufer zunehmend weniger finanzielle Unterstützung brauchen. 

Die Branchenexperten von Jato sehen diese Entwicklung mit Besorgnis. Gelinge es den europäischen Herstellern nicht, günstigere Modelle anzubieten, könnten die chinesischen Wettbewerber auch im Westen mit ihren preiswerten und zunehmend attraktiven E-Autos hohe Marktanteile erobern, so ihre Befürchtung. 

Noch sind nur wenige chinesische E-Autohersteller in Europa vertreten und Marken wie MG und Aiways hierzulande zweifellos Exoten. Allerdings dürfte sich das ändern, Hersteller wie NIO, Geely, BYD, Ora oder Wey haben bereits ehrgeizige Pläne zur Expansion angekündigt.